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22.03.2024

Jugendtagung 2024: Im Zeichen der Vielfalt

Die Jugendtagung 2024 - eine Kooperation von Insitut Suchtprävention, pro mente OÖ und Verein ISI - war auch heuer ein toller Erfolg! Rund 400 Personen – vorwiegend aus dem Bereich der außerschulischen Jugendarbeit – waren am 19. März 2024 bei unserer diesjährigen Veranstaltung zum Thema „Orientierung in der Vielfalt - Perspektiven jugendlicher Identitätsentwicklung“ mit dabei.

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Gleich zu Beginn durften wir uns über einen Beitrag des renommierten Sozialwissenschaftlers Prof. Dr. Klaus Hurrelmann freuen, der auf sehr anschauliche Art und Weise die komplexe Welt der jugendlichen Identitätsentwicklung darlegen konnte, und dabei die Erkenntnisse aktueller Studien miteinfließen ließ. Die Entwicklung einer eigenen Identität gleiche laut Hurrelmann der Erschaffung eines Kunstwerks. Dieser anschauliche Vergleich betrifft die Gestaltung jener Unverwechselbarkeit, die jeden Menschen einzigartig macht. In einer hochkomplexen, verletzlichen Welt sei der Weg zum authentischen Erleben der eigenen Identität für junge Menschen nicht einfacher geworden. Denn einerseits stünden laut Hurrelmann der Jugend zwar ungewöhnlich viele attraktive Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt offen und auch auf sozialer Ebene gebe es gegenwärtig ungleich mehr Möglichkeiten und Freiräume als zu früheren Zeiten, Identität, Beziehungen, Geschlecht nach freiem Willen zu gestalten und zu leben. Andererseits wird der grundsätzlich jugendliche Zukunfts-Optimismus getrübt durch unsichere materielle Aussichten, die nicht mehr das bisher gängige Muster zeigen. Zum Beispiel, dass es nachfolgenden Generationen tendenziell besser gehen werde als jenen ihren Eltern und Großeltern. Auch im immateriellen Bereich, etwa bei der für die Entwicklung wichtige Abkopplung vom Elternhaus, der Weg in die Eigenständigkeit als Person, gestalte sich unter den derzeitigen Bedingungen schwieriger, u.a. weil es oft sehr starke Bindungen zu den Eltern gebe.

Das bekannte Konzept der Entwicklungsaufgaben, das Klaus Hurrelmann wesentlich geprägt hat, beinhaltet vier wesentliche Bereiche: Von der Qualifizierung im Sinne von (Aus)Bildung, über die Gestaltung von Beziehungen und einer adäquaten Konsumfähigkeit bis zur Teilhabe an politischen Prozessen. Die Bewältigung dieser Aufgabenbereiche stelle aus sozialisationstheoretischer Perspektive das Kernziel dar, bringt aber gleichzeitig eine enorme Anforderung mit sich, weil sich jedem dieser Bereiche der Anspruch und die Komplexität erhöht haben.

Daher sei es auch wichtig die vorhersehbaren „Wege des Scheiterns“ zu betrachten, die mit diesen Aufgaben einhergehen, wenn die eigenen Ansprüche an die „Ich-Identität“ nicht erfüllt werden können. Auch hier differenziert Hurrelmann drei Möglichkeiten, die sich wie Druckventile „entladen“ können. Diese können sich nach innen (Depressionen, Angststörungen,…), nach außen (Aggression, Gewalt, Hyperaktivität,…) oder evasiv („Flucht“, z.B. in Drogen oder Verhaltenssüchte) darstellen. 

Aus Präventionssicht sei vor allem eine offene, und transparente Information wichtig, die u.a. auch die unproblematische Nutzung von psychoaktiven Substanzen oder Verhaltensweisen miteinschließt. So können junge Menschen dabei unterstützt werden ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, um auch in krisenhaften Zeiten gut zu bestehen.

Im zweiten Vortrag des Tages gab die klinische und Gesundheitspsychologin Diana Klinger, Msc MA MA, die an der Klinisch-psychologischen Ambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien tätig ist, einen Überblick über die Komplexität der Themen „Geschlechtsidentität und Geschlechtsentwicklung“. Dabei wurden nicht nur grundlegende Begriffe rund um Geschlechtervielfalt jenseits der binären Kategorisierung männlich - weiblich erläutert, sondern darüber hinaus auch die biologische Geschlechtsentwicklung sowie die Geschlechtsidentität aus entwicklungspsychologischer Perspektive beleuchtet.

Ein relevanter Aspekt des Vortrags war auch die Erörterung der Zusammenhänge zwischen Geschlechtsidentität und psychischer Gesundheit, wobei sich hier laut Klinger bei transgender Jugendlichen erhöhte Risiken für psychische Störungen zeigen, wie etwa Depressionen, Angststörungen, aber auch Störungen des Sozialverhaltens, ADHS oder Essstörungen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen auch, dass transgender Jugendliche im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhte Raten bei selbstverletzenden oder suizidalen Verhaltensweisen aufweisen. Häufig berichten Jugendliche, die geschlechtlicher Minderheiten angehören leider auch von Diskriminierungserfahrungen, Mobbing und familiäre Ablehnung. Daher sei es laut Diana Klinger dringend nötig die Schutzmaßnahmen und Akzeptanzförderung in allen Gesellschaftsbereichen zu stärken. Last but not least wurde im Vortrag auch der gesellschaftspolitische Umgang – dazu zählen etwa die gesetzlich möglichen Geschlechtskategorien - mit dem Thema Geschlechtervielfalt in Österreich beleuchtet.

Christian Walzl, BA Streetworker, Einrichtungsleiter und transgender Person schilderte in seinem authentischen, praxisnahen Beitrag wichtige Aspekte für den Umgang mit transgender Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendarbeit, u.a. wie man in der eigenen Einrichtung mit Outings von Jugendlichen – freiwillig oder unfreiwillig – umgehen kann.

Ein wichtiger Ansatz beim Thema Geschlechtervielfalt in Jugendeinrichtungen sei die gemeinsame Reflexion, zum Beispiel wenn es um das Aufbrechen der Reproduktion von Geschlechterrollen geht. Wichtig seien auch „Probierräume“, die frei von Diskriminierung und Gewalt sind und beispielsweise die Möglichkeit bieten bei Unsicherheiten in einem geschützten Rahmen Themen zu besprechen. Solche Räume zu schaffen, sei entweder physisch oder zeitlich möglich.

Geschlechtliche Vielfalt sei laut Christian Walzl immer noch mit Minderheitenstress gekoppelt. Daher wäre es umso wichtiger einen „Normalisierungsansatz“ anzustreben, das heißt dass man über diese Themen so sprechen kann, dass sie nichts Außergewöhnliches darstellen.  

In Jugendzentren oder anderen Einrichtungen für Jugendliche gibt es jedoch auch viele junge Menschen, die dem Thema geschlechtliche Vielfalt ablehnend gegenüberstehen oder sich vielleicht auch transphob äußern. Hier gelte es eine Balance zu finden, damit Personen die sich außerhalb des binären Geschlechtsspektrums befinden klar vor Mobbing oder Diskriminierung geschützt werden, zum Beispiel durch ein klares Regelwerk, das Ansprechen darauf und letztlich auch die Reflexion. Grundsätzlich sollten alle Jugendlichen, und somit auch jene die nicht in der „queeren Bubble“ sind, einen Rahmen vorfinden, in dem sie sich wohl fühlen. „Informieren statt Belehren“ ist in diesem Zusammenhang für Walzl ein Schlüssel zum Erfolg. Auch die in Bezug auf Geschlechtervielfalt verantwortungsbewusste, gewaltfreie Sprache sei hier entscheidend und gehöre zur Best Practice, die sich gut üben und mit einfachen Methoden in den Alltag integrieren lasse.

Der abschließende Beitrag zur Jugendtagung 2024 wurde von Prof. Dr. Daniel Hajok gestaltet, der seit 25 Jahren in Deutschland u.a. im gesetzlichen und erzieherischen Kinder- und Jugendmedienschutz tätig ist und sich auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte engagiert.

In seinem Vortrag „Jugend in der digitalen Welt“ skizzierte Hajok die durch die Digitalisierung veränderten Bedingungen, unter denen Jugendliche gegenwärtig heranwachsen bzw. ging auf die dadurch entstandenen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung ein. Für die „Alltagszufriedenheit“ von Jugendlichen spielen konstante Faktoren wie Zeit mit Freunden verbringen, persönlicher Erfolg und auch das „Chillen können“, also die Zeit zu haben, um nichts zu tun, eine wichtige Rolle. Zu diesen Konstanten, die sich über die Jahre hinweg wenig verändern zählen auf der Seite der Heranforderungen etwa der Leistungsdruck oder auch Zeitmangel, d.h. Dinge nicht im Alltag unterzubringen.

Hajok verwies in der Folge auf sechs zentrale Elemente für sich verändernde Rahmenbedingungen und strich dabei hervor, dass es in der digitalisierten Welt schwieriger geworden ist einen geschützten Raum zur Entfaltung, zum Experimentieren, vorzufinden. Da jugendliche Sein heißt heute digital präsent zu sein. Zudem kommen veränderte Zeitstrukturen, die sich als „Beschleunigung“ darstellen und Stress verursachen.

Wichtig in diesem Zusammenhang sei daher die Stärkung von Kompetenzen, die die Fähigkeit zur Selbstregulation frühzeitig fördern.

Zeitgleich erleben wir laut Hajok einen Bedeutungsverlust klassischer Sozialisationsinstanzen wie Schule oder Elternhaus, die im Gegensatz zu Medien oder Peers auch einen Bildungsauftrag haben. Digitale Medien als Sozialisationsagenturen gestalten jedoch nonformell ebenfalls Bildungs- und Erziehungsprozesse mit. Auch dies ein Grund, warum Identitätsbildungsprozesse im digitalen Zeitalter riskanter ablaufen als noch vor einigen Jahrzehnten. Daniel Hajok betonte auch die hohe Bindungskraft, die digitale Medien von sich aus aufbauen. Zudem werden Selbstwirksamkeitserfahrungen oft leichter ermöglicht als im „real life“. Die messbaren negativen Folgen liegen auf der Hand: Weniger Zeit für sich verknüpft mit digitalem Stress.

Ein weiterer Risikofaktor besteht in der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich beeinflussbarer sind als Erwachsene, weil ihre Fähigkeit zur Verantwortung und ihr ethisches, moralisches Bewusstsein noch nicht so ausgeprägt ist. Gleichzeitig bietet sich der Jugend durch ihren offeneren und unbefangenen Zugang auch viel Lernerfahrung. Umso wichtiger sei es laut Hajok zu wissen, dass diese Zugänge häufig unzureichend begleitet sind. Das Risikobewusstsein der Erziehenden sei zwar vorhanden, doch oft mangelt es an Wissen wie man konkret an Schutz und Sicherheit im Netz mitwirken kann, etwa das Aktivieren beschränkter Modi auf Social Media Plattformen usw.  

Eine zentrale Botschaft des Vortrags lautete: Die Pädagogik hinkt meist den Entwicklungen im digitalen Raum hinterher und kann negative Erfahrungen Jugendlicher im Netz meist nicht verhindern. Daher ist es nötig den Selbstschutz und die gute Bewältigung dieser Erfahrungen zu fördern. Voraussetzung dafür ist vor allem aus Elternsicht eine vertrauensvolle Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich anhand dieser überaus kurzweiligen Tagung festhalten, dass sich die Welt in der heute Jugendliche aufwachsen höchst komplex darstellt – mit eine Fülle an Möglichkeiten zur Selbstentfaltung – jedoch auch mit einer Vielzahl von Risiken. Eltern und Erziehende können diese Risiken insofern minimieren als sie den Kindern ein Rüstzeug mitgeben, mit dem sie ihren Alltag – analog und digital - gut bewältigen können.