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QUELLE: http://www.praevention.at

16.01.2020

Achtsam gegen Stress

Warum Achtsamkeitstrainings boomen und weshalb man sie auch kritisch beurteilen kann

Das Konzept der Achtsamkeit (englisch: mindfulness) erlebt in den letzten Jahren einen Höhenflug. Ursprünglich aus dem Buddhismus stammend, scheint es einem Grundbedürfnis nach Eingebunden-Sein zu entsprechen und soll das psychische Wohlbefinden verbessern. Seit den 1970er-Jahren werden Meditationstechniken, losgelöst von ihren religiösen Wurzeln, zur Stressreduktion eingesetzt, wie etwa das von Jon Kabat-Zinn entwickelte Achtsamkeitstraining zur Stressreduktion (mindfulness-based stress reduction, MBSR).

Achtsamkeit wird häufig als eine Haltung verstanden, bei der die Aufmerksamkeit bewusst und aktiv auf den aktuellen Moment gelenkt wird. Dies geschieht mit einer neugierigen, offenen und akzeptierenden Grundhaltung gegenüber eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen. So werden beispielsweise negative Gedanken und Gefühle zugelassen ohne sie zu bewerten oder sich in ihnen zu verlieren.
Ob Achtsamkeit eine zeitlich stabile Persönlichkeitseigenschaft ist oder eher ein wechselnder Zustand, darüber gibt es unter Fachleuten Uneinigkeit. Jedenfalls wird das Ausmaß an Achtsamkeit meist über Selbsteinschätzung von Befragten erhoben und dann in Bezug zu psychischem Wohlbefinden gesetzt. So scheint eine Veränderung der Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment mit positiver Stimmung einherzugehen, eine akzeptierende Haltung einen erfolgreicheren Umgang mit Stress zu ermöglichen. Neben längeren Trainingsprogrammen wie dem MBSR, können auch kurze Achtsamkeitsübungen zur bewussten Wahrnehmung von Alltagstätigkeiten (Geschirr spülen, auf den Bus warten…) angewandt werden. Bereits zehn Minuten tägliches Achtsamkeitstraining (z.B. motiviert durch eine App mit kurzen Anleitungen), bringen eine Steigerung positiver Stimmung.

Achtsam im Job

Seit den 1990ern nimmt die Verwendung des Begriffes „Stress“ zu. Vorrangige Leiden unserer Zeit sind Stress, Erschöpfung und Gefühle des Ungenügens. Dies zeigt sich auch in der hohen Zahl von Krankenstandtagen aufgrund psychischer Erkrankungen. Daher verwundert es nicht, dass auch Unternehmen Konzepte der Achtsamkeit für sich entdeckt haben. Mit dem Ziel höherer Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen und gesteigerter Produktivität und Kreativität werden Arbeitnehmer/innen Achtsamkeitstrainings angeboten. So hat beispielsweise Google mit „Search Inside Yourself“ ein siebenwöchiges Training entwickelt, das über 20.000 Angestellte des Google-Konzerns absolviert haben. Darüber hinaus wurden Meditationsräume eingerichtet, angeregt, Meetings mit einer zweiminütigen Meditation zu starten und einige Mitarbeiter/innen praktizieren „mindfulness lunch“, also bewusstes Essen im Schweigen.

Grenzen von Achtsamkeitsprogrammen

Achtsamkeitstechniken leisten einen wertvollen Beitrag zur persönlichen Weiterentwicklung und zur (betrieblichen) Gesundheitsförderung. An seine Grenzen stößt das Konzept beim Einsatz im beruflichen Kontext, wenn es zur unausgesprochenen Pflicht wird, sich um die eigene Regeneration zu kümmern und möglichst nicht krank zu werden. Stressmanagement wird dann zur Arbeit am Selbst, die erwartet wird. Die Freizeit soll als Erholung von der Arbeit effektiv genützt werden. Die Verantwortung für den Umgang mit Belastungen, die ihre Ursachen in der Organisation haben, wird an das Individuum ausgelagert. Wer trotz Achtsamkeitstraining noch nicht mit den Anforderungen zurechtkommt, ist selber schuld.

Wenn Aufgaben zur Verbesserung von Organisationsstrukturen oder Arbeitsbedingungen nicht erledigt werden, sondern nur das Verhalten der Mitarbeiter/innen optimiert wird, bekommen Ansätze wie „Achtsamkeit“ einen bitteren Beigeschmack.

Die Soziologin Greta Wagner ortet in diesem Zusammenhang eine Individualisierung gesellschaftlicher Themen – von der Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit bis zur privaten Pensionsvorsorge. Sie betont die Bedeutung von Institutionen einer solidarisch organisierten Gesellschaft, die in unsicheren Zeiten mit starken Umbrüchen in der Arbeitswelt die Sicherheit geben, nicht durch das soziale Netz zu fallen. Diese Fangnetze (z.B. Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung) senken das Stressniveau und packen das Problem steigender psychischer Belastungen an der Wurzel, statt ihre Symptome zu bekämpfen.

Vielleicht wurde auch etwas grundlegend missverstanden am buddhistischen Konzept der Achtsamkeit. Nach Thích Nhat Hanh, einem vietnamesischen Mönch und Autor, der als Vertreter des „engagierten Buddhismus“ gilt, bedeutet Achtsamkeit nämlich nicht, nur mit sich selbst beschäftigt zu sein oder sich mit einem Status Quo abzufinden. Achtsamkeit muss engagiert sein. Auf das bewusste Wahrnehmen muss das Handeln folgen.

Hier schließt sich der Kreis zu vielen anderen Konzepten, die die Wichtigkeit der eigenen Handlungsfähigkeit betonen. Aaron Antonovsky, spricht in seinem Konzept der Salutogenese von „Handhabbarkeit“, Albert Bandura prägte den Begriff der „Selbstwirksamkeit“. Beides ist wohl wichtig: eine gute Verbindung nach innen und das aktive Gestalten der eigenen Lebensumwelt.

 

Text: Mag. Rosmarie Kranewitter-Wagner, Institut Suchtprävention, Abteilung Außerschulische Jugend und Arbeitswelt

Quellen und weiterführende Infos:

Bild:Pexels auf pixabay.com