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09.12.2021

Videos und Nachbericht zur Online-Tagung "Auftauchen!"

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Nachbericht zur Online-Tagung „Auftauchen“

 

Rund 300 Teilnehmer/innen nahmen am 2. Dezember 2021 via Zoom und über den YouTube Lifestream an der Online-Tagung „Auftauchen - Förderung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen in Zeiten von Corona“ teil. Die Veranstaltung, eine Kooperation des Netzwerks „flow akut”der Stadt Steyr und des Instituts Suchtprävention der pro mente OÖ in Zusammenarbeit mit dem Medienzentrum WienXtra, wurde den Erwartungen und dem hohen Publikumsinteresse voll und ganz gerecht. Das zeigten die vielen spontanen, sehr positiven Rückmeldungen im Chat. Zurecht: Denn alle Referent/innen boten durchwegs spannende, hochinteressante und auch inspirierende Beiträge. Für die kompetente Moderation durch das Tagungsprogramm waren Claudia Neuhold (Soziale Initiative Steyr) und Herbert Baumgartner vom Institut Suchtprävention der pro mente OÖ verantwortlich.

Den Beginn der Vorträge machte Ali Mahlodji, der mit seiner positiven Ausstrahlung wichtige Botschaften für die Arbeit mit jungen Menschen deutlich machte. Der EU-Jugendbotschafter, Autor und Speaker begleitet als Experte für Arbeit und Bildung Führungskräfte und HR-Teams bei Veränderungsprozessen und gründete 2015 mit „Watchado“, eine Online Plattform zur Berufsorientierung für Jugendliche. Sein Credo: An einer Welt zu arbeiten, in der jeder Mensch – unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion, Herkunft, Hautfarbe, Behinderung oder sexueller Orientierung – die Möglichkeit hat, den eigenen Weg entdecken und zu gehen. Damit junge Menschen diesen Weg erkennen können benötigen sie Förderung - und Menschen in ihrem Umfeld, die ihre positiven Eigenschaften und Stärken erkennen, sie dahingehend auch unterstützen und nicht nur auf Schwächen hinweisen. Beides kennt Ali Mahlodji aus eigener Erfahrung. Diese Erfahrungen teilte er in seinem Vortrag mit den Teilnehmern/innen. Bei der Unterstützung von Erwachsenen für die Heranwachsenden müsse letztlich der Schritt vom Lehrenden zum Begleiter vollzogen werden. Denn nur wer es zulässt, auch selbst von Jugendlichen zu lernen, könne auch ihre Lebensrealität verstehen. Laut Ali Mahlodji werde es in unserer instabilen, von Veränderungen geprägten Welt immer wichtiger, jungen Menschen das Gefühl zu geben, Teil einer gemeinsamen Zukunft zu sein. Entscheidend sei es, den Sinn in seinem eigenen Tun zu finden: „Was ist dein Wofür?“ sollte dabei die Frage lauten. Das gilt natürlich nicht nur für Jugendliche. Um die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen braucht es für junge Menschen aber auch das Vertrauen und das Zutrauen der Erwachsenen. Hilfreich sei dabei laut Mahlodji in jedem Fall eine gesunde Portion Humor.

Den Blickwinkel der jugendpsychiatrischen Perspektive durften die Teilnehmer/innen unserer Online-Tagung anschließend im zweiten Vortrag des Nachmittags einnehmen. Doris Koubek, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, verdeutlichte in ihrem Vortrag, wie sich die derzeitigen psychosozialen Belastungen, die im Zuge der Corona-Krise entstanden sind, bei Jugendlichen auswirken und in welchen Störungsbildern sich diese zeigen. Die Zeit der Adoleszenz sei für Heranwachsende schon vor Corona nicht einfach gewesen, da die Pubertät durch zahlreiche biologische, hormonelle und psychische Entwicklungsprozesse und damit einhergehende Herausforderungen geprägt ist. Vor allem das Alter zwischen 14 und 17 Jahren beinhalte ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Durch die Corona-Krise haben sich die Belastungen für Jugendliche noch einmal erhöht. Mit Verzögerung wirke sich das auch in Form gestiegener psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen aus. Die Belastungen, die durch Einsamkeit, soziale Isolation, aber auch (Cyber-)Mobbing entstehen, sind vielfältig und reichen von einer depressiven Symptomatik bis zu Existenzängsten. Besonders gefährdet seien laut Doris Koubek Jugendliche, die schon zuvor eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen hatten, Mobbing-Erfahrungen erleben mussten bzw. generell Kinder mit niedrigem sozio-ökonomischen Status. Auffallend sei aus der Praxis heraus auch, dass deutlich mehr Mädchen als Jungen betroffen seien. Neben Angststörungen und Selbstzweifel zeigen sich die Symptome belasteter Jugendlicher auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel auch in Form von Essstörungen oder einer erhöhten Gewaltbereitschaft. Die Probleme und Belastungen sind vielfältig, die Handlungsmöglichkeiten für erwachsene Bezugspersonen sind es aber meist ebenso. Grundsätzlich sei es laut Koubek wichtig, sich wertfrei für Jugendliche und deren Themen zu interessieren, das Gespräch mit Jugendlichen zu suchen, die Pandemie zum Thema zu machen, aber auch offen seine Gedanken und Sorgen auszusprechen. Psychische Krisen dürfen dabei kein Tabu mehr sein. Um dies zu erreichen, bedarf es auch auf Ebene der Bildungs- und Hilfseinrichtungen einer guten Vernetzung.


Zum Abschluss der „Auftauchen“-Tagung stand schließlich ein Talk mit dem bekannten Hirnforscher und Buchautor Gerald Hüther auf dem Programm. Unsere Kollegin Sandra Brandstetter stellte dabei unter anderem die Frage, was Jugendliche derzeit am meisten brauchen. Neben Sicherheit, Geborgenheit, Autonomie und Freiheit sind es die Wertschätzung und Anerkennung und damit letztlich das Gefühl, aus sich selbst heraus bedeutsam zu sein. Laut Gerald Hüther sind es im Wesentlichen die drei Kohärenz-Säulen: Dinge zu verstehen, die eigene Selbstwirksamkeit zu erkennen und letztlich eine Sinnhaftigkeit im eigenen Tun abzuleiten. Das menschliche Gehirn sei dabei plastisch und zeitlebens umbaufähig. Damit bleiben wir laut Gerald Hüther Suchende. Wir können uns auf dieser Suche aber stets verirren – auch als Erwachsene, aber vor allem als Heranwachsende. Das treffe auf die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zu bzw. beim Umgang mit Krisen oder schwierigen Situationen. Wenn in diesen Fällen problematische Lösungsstrategien verinnerlicht werden, ist es häufig schwierig, die eingefahrenen Bahnen im Gehirn wieder zu verlassen. Kinder werden der Meinung Hüthers zufolge auch viel zu häufig zu einem Objekt der Erwartungen und Belehrungen von uns Erwachsenen. Dies beginne meist schon in der eigenen Familie. Dieser Wandel vom Subjekt zum Objekt anderer führe zu einer tiefgreifenden Verletzung der beiden psychoemotionalen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit sowie autonomen Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheit. Noch verheerender sei Hüther zufolge Situationen, in denen sich Menschen selbst zum Objekt machen, weile sie glauben nicht gut genug zu sein. Dadurch entstehen im menschlichen Gehirn zahlreiche hemmende Verschaltungen und Verwicklungen, die den Wunsch nach den genannten Bedürfnissen zudecken. Um das Verlangen nach diesen Grundbedürfnissen wieder zu „ent“-wickeln, eignet sich das von Aaron Antonovsky entworfene Konzept des Kohärenzgefühls. Denn zunächst müssten die Menschen verstehen, was geschehen sei, so Hüther. Erst dann kann man daran arbeiten die verdeckten Bedürfnisse wieder zu wecken. Dies sei möglich, indem man Menschen Selbstwerterfahrungen ermöglicht, dass es jemand ernst meint mit dem Gegenüber, zum Beispiel mit einer/m Jugendlichen. Es gehe, so Hüther, darum, nicht ein Objekt zu betrachten oder zu formen, sondern in Begegnung miteinander zu kommen. Das sei oft nicht einfach, weil wir selbst oft als Objekte betrachtet werden, zum Beispiel durch hierarchische Systeme, in denen wir uns in unseren Berufen bewegen. Um wieder in die eigene Subjektrolle zu kommen, sei es daher nötig, sich selbst zu stärken, nicht alleine daran zu arbeiten, sondern darüber zu reden, Begegnungen und Gemeinschaften zu suchen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dann kann man auch Jugendlichen helfen, ihren Weg zu finden.

Das gesamte Interview mit Gerald Hüther sowie Aufzeichnungen der Vorträge von Ali Mahlodji und Doris Koubek finden Sie unter: www.praevention.at/auftauchen